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Jetzt kostenlos testenBlink 3 von 12 - Eine kurze Geschichte der Menschheit
von Yuval Noah Harari
Geschichte einer Kollaboration
Ok, kleiner Scherz. Einen solchen letzten Ritt hat es natürlich nie gegeben. Dieses Heldentod-Szenario war eine Fantasie glühender Monarchisten, die lieber einen toten Kaiser als Märtyrer verehrt hätten, als seine völlige Entmachtung mitansehen zu müssen. Aber die Geschichte lief eben anders: Statt bis zum bitteren Ende bei ihren Truppen zu bleiben, flohen Kaiser und Kronprinz in einer Nacht-und-Nebel-Aktion in die neutralen Niederlande. Wilhelms Fahnenflucht kam in den konservativen und adligen Kreisen gar nicht gut an. Trotzdem hielten ihm seine Anhänger die Treue und versuchten, die Ereignisse zu seinen Gunsten umzudeuten. Sie stilisierten den Kaiser zu einem tragischen Helden, der zum Wohle des deutschen Volkes selbstlos auf die Macht verzichtet und sein Los mit Würde trägt.
Dabei hatten die Hohenzollern unterm Strich ziemlich viel Glück gehabt. Bei der Russischen Revolution im Jahr zuvor waren unzählige Köpfe gerollt und blaues Blut war in Mengen geflossen. Im Vergleich dazu ging es den Hohenzollern geradezu prächtig: Zwar durften der Kaiser und der Kronprinz als Hauptverantwortliche für den Krieg nicht nach Deutschland einreisen. Aber ansonsten wurde keinem Prinzen und keiner Prinzessin auch nur ein Haar gekrümmt, und die meisten von ihnen durften bald schon wieder auf ihre Schlösser zurückkehren.
In Haus Doorn, einem kleinen Schloss in der Nähe von Utrecht, lebten Wilhelm und sein Miniaturhofstaat standesgemäß in einer Art Exilanten-Parallelwelt, umgeben von Flaggen und Standarten des untergegangenen Deutschen Reiches. Morgens versandte der abgedankte Kaiser, rittlings auf einem Pferdesattel sitzend, von seinem Schreibtisch aus signierte Porträtfotos in alle Welt – er musste schließlich präsent bleiben. Im Raucherzimmer unter dem Konterfei Friedrichs des Großen empfing er Gesandte und Bewunderer und erzählte jedem, der es hören wollte, wie Deutschland den Krieg doch noch nachträglich gewinnen könnte. Man müsse bloß diese gemeine jüdische Weltverschwörung niederschlagen und natürlich allen, die ihn verraten und verlassen hätten, den Garaus machen. Von seinen antisemitischen und martialischen Ereiferungen erholte er sich dann im umliegenden Park beim Entenfüttern und Holzhacken.
Aus heutiger Sicht erscheint Wilhelm II. als eine traurig-komische Figur, die sich verzweifelt an Erinnerungen vergangener Größe klammert. Diese Ansicht teilten auch einige Zeitgenossen, und insbesondere die linke Presse der jungen Weimarer Republik ließ es nicht an Spott und Hohn für den ehemaligen Regenten fehlen. Doch sie unterschätzten dabei das Charisma, das immer noch von der Kaiserkrone ausging. Zwar hatte diese machtpolitisch erst einmal ausgedient, aber die symbolische Macht des Kaisers und seiner Familie war ungebrochen.
So wurde Schloss Doorn bald zur heimlichen Wallfahrtsstätte für Monarchisten und zur inoffiziellen Außenstelle rechtskonservativer Kräfte. Misstrauisch beobachteten sie die Entwicklungen in der Heimat und stießen auf jede Ermordung eines politischen Gegners an. Es floss also reichlich Champagner, denn solche Attentate standen im revolutionären Deutschland auf der Tagesordnung.
Der Name der Hohenzollern wurde bald zum Synonym für glühende Gegnerschaft zur Weimarer Republik. Er repräsentierte jahrhundertealte preußische Traditionen, militärische Stärke und nicht zuletzt Stabilität – etwas, das der noch wackligen deutschen Demokratie fehlte. Nicht wenige Deutsche hofften, der Kaiser würde eines Tages mit wehenden Fahnen zurückkehren, um das Reich zu einen und zu neuer Herrlichkeit zu führen.
Dabei beschränkte sich die Verehrung der Hohenzollern nicht nur auf Wilhelm. Als seine Frau, Kaiserin Auguste Victoria, 1921 verstarb, folgten Hunderttausende ihrem Sarg in den Potsdamer Park Sanssouci, wo wie in alten Zeiten 6000 Offiziere Spalier standen. „Wir wollen die Wiederherstellung der Monarchie unter dem Zepter der Hohenzollern“, forderte auch die neu entstandene Deutschnationale Volkspartei, DNVP. Doch unter wessen Führung? Tja, da war sich das monarchistische Lager nicht ganz einig.
Nach dem Legitimitätsprinzip der Monarchie hatte ein Kaiser Anrecht auf das „Königtum von Gottes Gnaden“ bis zu seinem Tod, und schließlich lebte Wilhelm noch. Doch irgendwie fanden viele, seine Majestät wirke etwas verbraucht und weltfremd. Hätte der Enten fütternde alte Herr auf Schloss Doorn im Ernstfall wirklich genug Kraft, den deutschen Thron in altem Glanz erstrahlen zu lassen?
Bei seinem Sohn Friedrich Wilhelm, einem sportlichen jungen Mann Mitte dreißig, lagen die Dinge schon anders. Der Kronprinz verbrachte die ersten Jahre nach dem Krieg in einem einfachen Backsteinhaus auf der Insel Wieringen. Diesen Umstand nutzte sein Beraterstab – heute würde man sagen: sein PR-Team –, um daraus die Erzählung eines verlorenen Sohns zu stricken, den die karge Einöde des Exils Verzicht und Bodenständigkeit gelehrt hat, und der bereit ist, gereift und geläutert den ihm bestimmten Königsthron zu besteigen.
Probleme machten bei der Image-Kampagne allerdings die außerehelichen Affären des Kronprinzen. Man munkelte sogar, er habe zu Kriegszeiten eine französische Geliebte gehabt – und das, während die tapferen Soldaten in den Schützengräben Frankreichs fürs Vaterland fielen! Der Prinz liebte eben das gute Leben und erfreute sich an Frauen, verrauchten Clubs und schnellen Motorrädern. Sein dekadenter Lebensstil widersprach dem Ideal eines genügsamen und sittentreuen Preußen.
Zum Glück kam ihm der Zeitgeist zu Hilfe, denn der schneidige Prinz im schicken Tweed-Dreiteiler passte hervorragend ins Lebensgefühl der Zwanzigerjahre. Er wirkte moderner und volksnaher als sein weißhaariger, welkender Vater. Von dem sprach der Kronprinz selbst nur als sein „verkalkter Papa“. So wurde Friedrich Wilhelm unversehens zum Werbegesicht einer jungen und zeitgemäßen Monarchie. Die US-amerikanische Boulevardpresse war geradezu besessen von ihm und stürzte sich auf ihn, wo immer er auftauchte.
1923 erwirkte Reichskanzler Gustav Stresemann schließlich die Rückkehr des Kronprinzen nach Deutschland. Also packte der designierte Thronfolger, der nur wenige Jahre zuvor noch als Kriegsverbrecher gegolten hatte, munter seine Koffer und zog wieder zurück zu seiner Frau ins Potsdamer Schloss Cecilienhof. Dort wollte er, so sagte er zumindest, nur noch Privatmann sein und sich in vornehmer Zurückgezogenheit mit seiner Pferdezucht und seinen Jagdhunden beschäftigen. Aus politischen Fragen würde er sich in Zukunft heraushalten.
Wie wir im nächsten Blink sehen werden, hat er dieses Versprechen nicht gehalten.
In Die Hohenzollern und die Nazis (2021) beleuchtet Stefan Malinowski, wie Deutschlands ehemals mächtigstes Adelsgeschlecht mit dem NS-Regime verbandelt war. In welcher Beziehung standen Kaiser Wilhelm II. und seine Erben zu Adolf Hitler? Welche Rolle spielten sie beim Untergang der ersten deutschen Demokratie? Diese und weitere spannende Polit-Geheimnisse rund um die Hohenzollern lüften wir in diesem Blink.
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von Yuval Noah Harari