Wie ich im Europaparlament den Glauben an (fast) alles verlor
Brüssel sehen und sterben schildert Nico Semsrotts satirische Erlebnisse und Beobachtungen als EU-Parlamentarier, wobei er humorvoll die absurden und oft kafkaesken Zustände in der europäischen Bürokratie kritisiert.
Es fing schon alles nicht besonders vielversprechend an. Als Kind hatte Nico kaum Freunde. Sein Hobby war, es einfach gar nicht zu versuchen. Als Jugendlicher gesellte sich dann zur allgemeinen Lethargie leider noch ein großes Unrechtsbewusstsein. Nico engagierte sich in der Schülerzeitung, die schon bald wegen mangelndem Enthusiasmus und übermäßiger Aufmüpfigkeit von der Schulleitung verboten wurde. Gemeinsam mit seinem Bruder und einigen anderen gab er die Zeitung anschließend im Untergrund heraus und gewann dafür sogar einige Preise.
Nach der Schule studierte Nico Soziologie und Geschichte. Er hielt ganze sechs Wochen lang durch, nicht schlecht für seine Verhältnisse. Auch zum Poetry-Slam kam er eher aus Zufall: Eigentlich wollte er sich wie immer im letzten Moment drücken, aber jemand schubste ihn auf die Bühne. Um sich wenigstens etwas zu verstecken, zog er seine Kapuze tief ins Gesicht – seitdem ist der schwarze Kapuzenpulli sein Markenzeichen, sein Nicht-so-Superman-Kostüm.
Trotz, oder vielleicht wegen Nicos deprimierender Persönlichkeit hatte er einigen Erfolg auf deutschen Bühnen. Er trat als Demotivationstrainer auf, frei nach seinem Lebensmotto: „No fun, no fun.“ Er beschimpfte sein Publikum, zog es runter und verdiente damit seinen Lebensunterhalt. Neben Galgenhumor und Depressionen gab es in seinen Auftritten immer eine klare Linie: gegen Rechts. Diese Haltung sorgte dafür, dass der schwarze Hoodie noch eine zweite Funktion bekam: Nico erhielt schon früh Gewalt- und Morddrohungen. Praktischerweise erkennt ihn ohne die Kapuze auf der Straße jedoch niemand.
Natürlich hat Nico nicht selbst beschlossen, dass er jetzt Politiker wird. Was dachtest du denn? Es lief andersherum: DIE PARTEI wurde auf ihn aufmerksam und fragte an, ob er nicht für sie fürs Europaparlament kandidieren wolle. In einem Anflug von Aktionismus sagte er zu und dachte sich sogar eine lustige Kampagne aus mit dem Motto: „Weil ich mir egal bin.“ Erstaunlicherweise hatte er damit Erfolg.
Nico ist von Anfang an nicht angetreten, um inhaltlich in Ausschüssen zu arbeiten wie die meisten anderen Politiker. Als Abgeordneter einer Satirepartei sah er seine Aufgabe woanders: Sein Ziel war es, Öffentlichkeit herzustellen und auf Missstände aufmerksam zu machen.
Brüssel sehen und sterben (2024) bietet einen einmaligen Einblick in die Funktionsweise des Europaparlaments. Spoiler: Es ist ziemlich deprimierend, aber auch ein bisschen lustig.
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