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Blink 3 von 12 - Eine kurze Geschichte der Menschheit
von Yuval Noah Harari
Die Kanzlerin und ihre Zeit
Am 13. August 1961 begann Herlind Kasner hemmungslos zu weinen. Ihr Mann Horst stand verzweifelt neben ihr, denn sie hörte den ganzen Tag nicht auf zu schluchzen. Ihre Tochter Angela, vor Kurzem sieben Jahre alt geworden, verstand nicht, was los war. Sie wollte ihren Eltern helfen, sie wollte, dass sie wieder fröhlich wurden, aber sie wusste nicht wie. Erst einige Jahre später verstand sie, was an diesem Tag passiert war: Die DDR hatte die Grenze in den Westen geschlossen. Sie waren eingesperrt.
Aber warum war die Familie Kasner denn überhaupt im Osten? Schließlich hatten sich Angelas Eltern in Hamburg kennengelernt, als beide dort studierten: ihr Vater Horst evangelische Theologie und ihre Mutter Herlind Lehramt für Latein und Englisch. Angela Kasner wurde am 17. Juli 1954 in der Hansestadt geboren. Doch schon wenige Wochen später überquerte sie die Grenze in den Osten.
Der Grund war ganz pragmatisch: Ihr Vater war Pastor und bekam dort eine Stelle angeboten. Er war absolut kein Kommunist, aber er dachte eben, dass Menschen überall das Recht hätten, Gott zu begegnen. Er meinte sogar einmal, dass er auch nach Afrika gegangen wäre, wenn die Kirche das so entschieden hätte. Außerdem muss man wissen, dass die Teilung Deutschlands 1954 noch keine sichere Sache war: Die Grenzen waren offen, die Familie Kasner hätte jederzeit zurückgehen können. Und eigentlich war das auch der Plan – bis zu jenem schicksalhaften Tag im Jahr 1961.
Nun saßen sie also fest. Aber immerhin hatte sich die Familie Kasner eine kleine, relativ freie intellektuelle Insel mitten in der Diktatur errichtet. Horst Kasner leitete nämlich ein Pastoralkolleg in Templin, ungefähr achtzig Kilometer nördlich von Berlin. An diesem Kolleg wurden Pfarrer aus Ostberlin und Brandenburg aus- und fortgebildet. Daher herrschte in der Einrichtung eine akademische, intellektuelle Atmosphäre. Ständig kamen neue interessante Menschen, um zu lernen und zu diskutieren. Die Kirche war einer der wenigen Orte, an denen man relativ frei sprechen konnte. Natürlich wurde die Familie Kasner misstrauisch von der Stasi beobachtet. Dennoch genoss sie mehr Meinungsfreiheit als die meisten ihrer Mitbürger. Im Kolleg wurde zum Beispiel heimlich Literatur aus dem Westen gelesen und besprochen.
Besonders Herlind Kasner litt unter der Situation. Als Frau eines Pastors war es undenkbar, dass sie an einer Schule unterrichten durfte, deswegen war sie zwangsweise Hausfrau. Sie unterrichtete allerdings nebenbei in der Kirche Englisch, und sie beteiligte sich an den lebhaften Diskussionen im Kolleg. Angela lernte aus dieser Situation schon früh: Draußen hält man am besten den Mund, doch zu Hause, bei der Familie, darf man alles sagen.
Es ist ein langer Weg von der Pastorentochter in der DDR-Provinz bis zur mächtigsten Frau der Welt. In unseren Blinks zu der Biografie Angela Merkel (2021) laden wir dich ein, diesen Weg mit uns zu gehen und den Menschen hinter der öffentlichen Fassade besser kennenzulernen.
„Kirchenkinder mussten besser sein als alle anderen, um in der DDR ihren Weg zu machen.
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