Wege zum Ich
Es war einmal ein Mann, der schreckliche Angst hatte, sich selbst zu verlieren. „Was, wenn ich mich eines Tages nicht mehr im Spiegel erkenne und vergesse, dass ich ich bin? Oder wenn ich mich auf einem Foto nicht mehr von den anderen unterscheiden kann?“, fragte er sich angstvoll. Und weil ihm diese quälende Furcht keine Ruhe ließ, beschloss er, ab sofort nur noch braune Kleidung zu tragen. „So werde ich immer wissen, dass ich der Mann in Braun bin“, erklärte er. Gesagt, getan. Doch eines Tages luden ihn Freunde ein, schwimmen zu gehen. Da musste er seine Kleidung wohl oder übel ablegen. Er wurde zu einem Nackten unter Nackten. Um sich in der Menge nicht zu verlieren, band er sich ein braunes Band um den rechten Knöchel. Nachdem er ein wenig geschwommen war, löste sich das Band unmerklich ab und trieb ans Ufer. Dort fischte es ein anderer Badegast aus dem Wasser, und weil es ihm gefiel, knotete auch er sich das braune Band kurzerhand um den rechten Knöchel. Wenig später begegneten sich beide Herren in der Umkleidekabine. Verwirrt betrachtete unser Held den Fremden, der sein braunes Band trug, und fragte ihn schüchtern: „Entschuldigen Sie bitte. Sie sind der Mann in Braun. Aber können Sie mir auch sagen, wer ich bin?“
Und die Moral von der Geschicht’? Wenn wir uns davon abhängig machen, wie andere uns sehen, leben wir sehr gefährlich. Wenn wir den Blick von außen brauchen, um uns selbst zu erkennen, verlieren wir uns.
Diese Form von Abhängigkeit kommt besonders häufig in engen Freundschaften, Familien oder Liebesbeziehungen vor. Vielleicht hast du sogar schon mal selbst erlebt, wie es ist, ohne die Aufmerksamkeit anderer nicht leben zu können. Doch diese Sucht danach, bewundert, gebraucht oder wenigstens bemitleidet zu werden, hält dich in einem Zustand ewiger Unreife gefangen. Solange du den bestätigenden Blick des anderen auf dir brauchst, lebst du nicht selbstbestimmt.
Was also tun? Sich aus aller Abhängigkeit befreien und ein für alle Mal unabhängig werden? Das klingt so einfach, doch: Der Mensch ist ein soziales Wesen, das zur Befriedigung seiner Wünsche und Bedürfnisse immer ein bisschen auf andere angewiesen ist. Die Idee völliger Unabhängigkeit ist also eine Illusion.
Wenn wir uns aus dem Dilemma befreien wollen, müssen wir einen anderen Weg einschlagen. Die erste Station auf diesem Weg ist die Erkenntnis: Wir müssen verstehen, wo die Wurzeln des Problems liegen. Der nächste Blink ist deshalb eine Geschichte der menschlichen Abhängigkeit.
Seit seiner Erstveröffentlichung im Jahr 2000 ist Selbstbestimmt leben eine feste Größe in der Welt der Selbsthilfeliteratur. Der Ratgeber behandelt nichts Geringeres als die große Frage nach der Selbstbestimmung: Wie mache ich mich unabhängig von anderen? Wie schaffe ich es, mein Leben in die eigenen Hände zu nehmen?
Ich bin begeistert. Ich liebe Bücher aber durch zwei kleine Kinder komme ich einfach nicht zum Lesen. Und ja, viele Bücher haben viel bla bla und die Quintessenz ist eigentlich ein Bruchteil.
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Blink 3 von 12 - Eine kurze Geschichte der Menschheit
von Yuval Noah Harari
