Eine verlernte Kunst
Warten von Timo Reuter ist ein Roman über die Menschen, die auf den richtigen Moment warten. Mit einer Mischung aus Humor und Tragik erzählt er von der Kunst des Wartens und den unerwarteten Wendungen des Lebens.
Erinnerst du dich noch an deine Kindheit, als du schon Anfang Dezember jeden Tag mit Vorfreude den Adventskalender geplündert hast? Als du in der Nacht vor deinem Geburtstag nicht richtig schlafen konntest, weil du so gespannt auf deine Geschenke warst?
Vorfreude ist die schönste Freude, sagt eine Redensart. Zumindest hält sie länger an als die Freude selbst, die mit dem Moment der Wunscherfüllung bereits wieder vorbei ist. Vorfreude kann sich dagegen über Wochen, sogar Monate ausdehnen. Vorausgesetzt: Man kann warten.
Und hier haben es Menschen evolutionsbedingt schwer. Denn wenn uns Vorfreude erfüllt, wird in unserem Gehirn der Botenstoff Dopamin ausgeschüttet. Er motiviert uns, aktiv zu werden, um uns diesen Glückskick immer wieder zu verschaffen. Nicht irgendwann, sondern am besten sofort. Je häufiger wir ihn dann erleben, desto schwächer erleben wir das Gefühl und desto häufigere und intensivere Glückserfahrungen brauchen wir.
Dieser Mechanismus sicherte unserer Spezies das Überleben. Denn wenn es um Leben und Tod geht, ist es sinnvoll, die eigenen Bedürfnisse möglichst sofort zu befriedigen. Doch zumindest auf der Nordhalbkugel der Welt geht es bei unserem Verlangen heute nur äußerst selten um existenzielle Bedürfnisse. Wir überleben, auch wenn wir das nächste Stück Kuchen erst in ein paar Wochen essen und die dritte Folge der Netflix-Serie nicht diesen Abend, sondern morgen sehen.
Zugegeben, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen machen es uns auch nicht leicht. Unser gesamtes Wirtschaftssystem ist auf Instant Gratification ausgelegt. Kauf dich glücklich! Jetzt. Sofort. Doch indem wir unsere Wünsche ständig sofort befriedigen, schwächen wir auf lange Sicht unser Glücksempfinden und brauchen immer mehr davon.
Es lohnt sich also, sich bewusst Anlässe zur Vorfreude zu schaffen. Auch weil die Erwartung einer schönen Sache die Lebenszufriedenheit insgesamt verbessert. Britische Forscher stellten bei einer Befragung fest, dass Menschen, die einen Urlaub geplant hatten, in vielen Lebensbereichen glücklicher waren als die Vergleichsgruppe von Menschen, denen keine berufliche Auszeit bevorstand.
Und nicht nur das: Vorfreude ist auch gesundheitsfördernd. In anderen Untersuchungen fanden Wissenschaftler heraus, dass Vorfreude das Immunsystem stärkt, depressionslindernde Beta-Endorphine produziert und Stresshormone abbaut.
Vorfreude braucht übrigens nicht immer eine Erfüllung. Manchmal reicht es bereits, in Gedanken zu schwelgen und sich vorzustellen, wie es wäre, wieder im Urlaub am Strand zu liegen oder den geliebten Menschen in die Arme zu schließen, um genau die gleiche Freude zu empfinden wie früher vor Weihnachten.
Warten hat einen schlechten Ruf. Schade, schließlich ist das Warten Teil unseres Alltags. Wir warten auf den Bus, an der Kasse, auf den nächsten Urlaub, auf die Verabredung. Die leere Zeit kommt uns ungenutzt und verloren vor, aber ist sie das wirklich? Die Blinks zu Warten (2020) erinnern an die positiven Seiten des Wartens. Damit du in Zukunft gelassener auf die Uhr sehen kannst.
Übrigens: Deutsche nehmen Wartezeit laut einer Studie von 2016 als größtes Alltagsärgernis wahr.
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