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24 min

Dein selbstbestimmtes Kind Zusammenfassung

Unterstützung für Eltern, deren Kinder früh nach Autonomie streben
von Charlotte Zink | 01.09.2022

Was drin ist für dich: Persönliche Einblicke in die Leben selbstbestimmter Kinder.

Manche Menschen kommen bereits mit entschlossenem Blick zur Welt. Sie wollen schon als Kleinkinder alles allein machen: vom Anziehen übers Essen bis zum Schlafengehen. Das sorgt für Machtkämpfe innerhalb der Familie und lässt Eltern am Wert ihrer Erziehung zweifeln. Einige Kinder machen sich nicht einmal etwas aus Körperkontakt. Jesper Juul nannte sie autonome oder selbstbestimmte Kinder.

Diese Blinks greifen die Besonderheit des letzten Buches von Jesper Juul auf. Basierend auf dem Briefkontakt zwischen dem Familientherapeuten und besorgten Eltern autonomer Kinder erklären sie, wie es Eltern gelingt, den Selbstbestimmungsdrang ihrer Kinder zu akzeptieren. Sie zeigen, wie sie Konflikte lösen und ihre Kinder mit der richtigen Einstellung auf dem Weg zu charakterstarken Persönlichkeiten begleiten.

Du erfährst außerdem,

  • warum Eltern nicht perfekt, sondern authentisch sein sollten,
  • wie Eltern ihre eigene, persönliche Stimme finden und
  • was wir alle von selbstbestimmten Kindern lernen können

Selbstbestimmte Kinder wollen selbst entscheiden, wann sie die Angebote ihrer Eltern wahrnehmen.

Stell dir vor, du bekommst ein Kind. Vielleicht hast du sogar schon Kinder und, abgesehen von den üblichen Konflikten, ein liebevolles und unkompliziertes Verhältnis zu ihnen. Aber dieses Kind ist anders. Es will fast nie kuscheln, zieht sich schon mit drei Jahren alleine an und verweigert jegliche Form von Hilfe. Wenn dies zutrifft, hast du womöglich ein autonomes oder selbstbestimmtes Kind. Was bedeutet das?

Zunächst einmal bedeutet es jede Menge Frust. Wir alle streben unser Leben lang nach Selbstbestimmung. Wir hegen den grundlegenden Wunsch, uns mit unseren Talenten und Fähigkeiten einzubringen, gesehen und unterstützt zu werden. Bei selbstbestimmten Kindern ist dieser Wunsch aber von Beginn an so stark, dass sie ausgerechnet die Angebote ausschlagen, über die ihre Bezugspersonen Liebe ausdrücken: also zum Beispiel Angebote wie kuscheln, vorlesen oder Haare kämmen.

Nehmen wir das Beispiel der kleinen Katharina: Ihre Eltern haben insgesamt vier Töchter und somit reichlich pädagogische Erfahrung. Trotzdem verfasst die Mutter einen verzweifelten Brief an Jesper Juul. Sie schreibt, Katharina sei anders als ihre anderen Kinder. Sie wolle weder in den Arm genommen werden noch zusammen mit der Familie essen. Sie weigere sich, sich dem Wetter angemessen zu kleiden und zu einer vertretbaren Uhrzeit ins Bett zu gehen.

Eltern selbstbestimmter Kinder leiden unter den Konflikten und Machtkämpfen, die aufgrund einer solch außergewöhnlichen Willensstärke entstehen. Viele empfinden die Haltung ihres Kindes als Zurückweisung und wissen nicht, was sie ändern sollen. Sie quälen sich mit Zweifeln wie: „Lassen wir unser Kind nicht im Stich, wenn wir unsere Angebote zurückschrauben? Warum will es unsere Hilfe nicht? Machen wir etwas grundlegend falsch?“

Jesper Juul zeigt Eltern, wie sie ihrem autonomen Kind nahe sein können und ihm vermitteln, dass mit ihm alles in Ordnung ist. Und er zeigt ihnen, wie sie ihm trotz seiner Eigenwilligkeit beibringen, dass es noch viele Dinge gibt, die es lernen muss. Jedes Kind braucht Führung und Fürsorge. Dein autonomes Kind braucht all das, was du zu bieten hast – es will nur selbst bestimmen, wann es diese Angebote annimmt. Versuche ihm diese Freiheit so weit wie möglich zu gewähren.

Stell dir deine Beziehungsangebote wie ein Buffet vor, an dem sich dein Kind selbstbestimmt bedienen kann. Lass es so oft wie möglich selbst entscheiden, wann es kuscheln, essen oder schlafen gehen möchte. Juuls Erfahrung nach konnte dieser Ansatz viele Eltern-Kind-Beziehungen entspannen: Die Eltern hatten kein schlechtes Gewissen mehr und die Kinder nicht länger das Gefühl, ständig die wichtigsten Menschen in ihrem Leben zurückweisen zu müssen.

Nun geht es nicht darum, dass dein Kind ab sofort den Familienalltag diktiert. Das will es auch gar nicht. Es geht um einen empathischen, authentischen Austausch und gehaltvolle Kompromisse. Es geht darum, dass ihr Vereinbarungen trefft, die die Bedürfnisse aller Beteiligten respektieren. Wie das gelingen kann, erfährst du in den folgenden Blinks.

Selbstbestimmte Kinder brauchen eine authentische Kommunikation auf Augenhöhe.

Wer Kinder hat, kennt die folgende Situation: Das Kinderzimmer sieht aus wie ein Schlachtfeld, der Tag neigt sich dem Ende und du möchtest, dass ein wenig Ruhe einkehrt. Dein Kind hingegen möchte sein Zimmer nicht aufräumen. Du bleibst hartnäckig, dein Kind reagiert genervt. Du fühlst dich in deiner Autorität untergraben und verschärfst den Tonfall, bis die Situation eskaliert. Das muss nicht sein.

Nehmen wir an, das Gespräch zwischen dir und deinem Kind verläuft anders. Du sagst: „Es stört mich, wenn die Wohnung so chaotisch ist. Das gilt sowohl für dein Zimmer als auch für Papas Kleiderschrank. Ich will keinen von euch herumkommandieren, aber ich wünsche mir, dass ihr meine Bedürfnisse respektiert. Kannst du das verstehen?“ Dein Kind überlegt und antwortet: „Nein, weil ich nicht so bin wie du.“ Du nickst und beendest das Gespräch mit einem Vorschlag: „Gut, aber versuch doch zumindest, dich beim nächsten Mal an meine Bedürfnisse zu erinnern.“

Welche Vorteile hat ein solcher Ansatz? Er zeugt von Respekt. Du äußerst aufrichtiges Interesse an der Haltung deines Kindes, statt autoritäre Befehle zu erteilen. Du begegnest ihm auf Augenhöhe. Zögere nicht, deinem Kind eine so erwachsene Sprache zuzumuten, es wird dich verstehen.

Viele Konflikte zwischen Erwachsenen und Kindern entstehen dadurch, dass Erwachsene von ihren Kindern Einsicht und Kompromissbereitschaft fordern, ohne diese Werte selbst vorzuleben.

Mit einer authentischen Kommunikation gibst du Einblicke in deine Gefühlswelt. Du stellst die Ordnung im Zimmer nicht als Gesetz dar, sondern als dein persönliches Bedürfnis. Deine Sätze beginnen nicht mit „Du“ wie bei Geboten oder Schuldzuweisungen. Du formulierst authentische Ich-Botschaften. So vertraust du dich deinem Kind an und gibst ihm die Chance, empathisch zu sein und Rücksicht auf dich zu nehmen.

Es geht darum, dass du als Bezugsperson deine eigene, persönliche Stimme findest. Selbstbestimmte Kinder haben ein feines Gespür für Authentizität. Sie merken, wenn du dich mit akademischer Distanz oder leeren Phrasen aus dem Erziehungsratgeber verkünstelst. Finde eine Sprache, die deine Gedanken und Gefühle transportiert. In dieser Sprache ist auch Platz für Unvollkommenheiten. Sei ehrlich, wenn dir etwas auf der Seele liegt. Es ist okay zu sagen: „Heute fiel es uns schwer, einander zu verstehen. Meinst du, wir kriegen das morgen besser hin?“ Es wird dir nicht immer gelingen geduldig und durchlässig zu sein. Wichtig ist nur, dass du es versuchst.

Kinder müssen die Grenzen und Schwächen ihrer Bezugspersonen sehen können. Das gibt ihnen die Möglichkeit, ein Gefühl für ihre eigene soziale Verantwortung zu entwickeln.

Autonome Kinder brauchen Entscheidungsfreiheit und Zeit, um ihre Grenzen zu erforschen.

Sicher könnte man auch denken: Ist doch prima, wenn das Kind alles allein macht. Wo liegt das Problem? Die folgenden Blinks geben den Austausch zwischen Juul und einigen besorgten Eltern autonomer Kinder wieder. Sie zeigen, warum ein starker Wunsch nach Selbstbestimmung schnell zur familiären Zerreißprobe wird, und wie Bezugspersonen damit umgehen können.

„Selber machen!“ Das waren die ersten Worte des zwanzig Monate alten Mädchens, das von seinen Eltern liebevoll „Motte“ genannt wird. Motte kam praktisch „fertig“ zur Welt: ohne Babyspeck und Käseschmiere, dafür aber mit einer unerschütterlichen Entschlossenheit. Motte wollte von Beginn an ein großes Kinderbett statt einer kleinen Wiege. Sie redete ohne Unterlass und konnte früh alles in ihrer Umgebung benennen. Sie kann sich schon jetzt komplett selbstständig anziehen und will eben am liebsten alles „selber machen“. Wenn ihre Mutter ihr in guter Absicht den Joghurtbecher öffnet, rührt sie diesen nicht mehr an.

Die Eltern spüren, dass sie ihrer Tochter – entgegen den Vorstellungen der Verwandtschaft – möglichst viel Entscheidungsfreiheit lassen müssen. Konflikte entstehen dann, wenn Bedürfnisse kollidieren, zum Beispiel weil die Kleine sich nicht rechtzeitig anzieht. Wie lassen sich solche Konflikte lösen?

Juuls Antwort beginnt mit einem Lob an Mottes Eltern. Sie haben es geschafft, sich von fremden Erziehungsvorstellungen zu lösen. Autonome Kinder lassen sich weder drängen noch manipulieren. Sie brauchen keine autoritären Befehle, sondern klare und gleichwürdige Ansprachen.

Die Eltern sollten ihre Wünsche daher rechtzeitig kommunizieren: „Ich möchte, dass du dich anziehst. Du darfst selbst entscheiden wann, aber ich wünsche mir, dass du es tust.“ Anschließend sollten sie Motte  allein lassen, ohne sie durch erneute Aufforderungen zu bedrängen. Ihre Motte weiß, was von ihr verlangt wird. Sie wird dem Wunsch nachkommen, solange sie frei über den Zeitpunkt bestimmen kann.

Auch der achtzehn Monate alte Luka testet die Grenzen seiner Eltern. Er will das Bücherregal im Wohnzimmer ausräumen, egal wie oft und einfühlsam seine Mutter „nein“ sagt. Außerdem liebt er es, Staub zu saugen und verliert die Fassung, wenn man es ihm verbietet, weil gerade Gäste da sind.

Juul bestärkt Lukas Mutter darin, ihn behutsam aber bestimmt auf ihre eigenen Grenzen hinzuweisen. Lukas Bedürfnisse standen bis zu diesem Zeitpunkt immer im Vordergrund. Nun muss er lernen, seine Wünsche in bestimmten Situationen zurückzustellen. Er muss herausfinden, welche Momente das sind, und lernen, auf die Klarheit und Beständigkeit seiner Eltern zu vertrauen.

Eltern müssen Verantwortung für die Qualität der Beziehungen in ihrer Familie übernehmen.

Damit ist die Stoßrichtung von Juuls Philosophie erkennbar: Authentizität statt Autorität, Grenzen zeigen statt Grenzen setzen. Doch wie genau schützt man seine eigenen Grenzen, wenn ein Kind vehement auf seinen Willen drängt?

Das fragt sich auch die Mutter der kleinen Luisa. Das zweieinhalbjährige Mädchen ist ein Musterbeispiel für ein autonomes Kind. Sie ist seit Babytagen in allem, was sie tut, fest entschlossen und für ihr Alter weit entwickelt. Sie saugt mehr Reize auf, als sie verarbeiten kann und will nahezu alles allein machen. Wenn sie Hilfe einfordert, dann ausschließlich die ihrer Mutter. Diese ist entsprechend überfordert, weil so gut wie alle Aufgaben an ihr hängen bleiben. Wie kann sie lernen, „nein“ zu sagen?

Indem sie aufrichtige Ich-Botschaften formuliert. Juul bezieht sich auf das von der Mutter in einem Brief beschriebene Beispiel des Wickelns. Luisa schreit, wenn die Mutter die Aufgabe an den Vater übergeben möchte: „Mama! Ich will, dass du das machst!“ Die Mutter könnte wie folgt reagieren: „Das habe ich verstanden. Aber ich will jetzt nicht. Ich brauche Zeit für mich, und ich will nicht mit dir darum kämpfen.“

Natürlich wird sich Luisa in diesem Moment abgelehnt fühlen. Sie wird aber auch lernen, dass sie deswegen nicht weniger von ihrer Mutter geliebt wird. Luisas Eltern müssen ihr Gefühle wie Frust oder Unzufriedenheit zumuten, um ihre eigene Intimsphäre zu schützen.

Aber was, wenn der kindliche Frust in Aggressivität umschlägt? Die Eltern eines siebenundzwanzig  Monate alten Jungen – nennen wir ihn Paul – berichten von dessen Übergriffen auf seine kleine Schwester. Paul kratze, haue und beiße. In anderen Momenten steigere er sich in lange Tobsuchtsanfälle. Woher stammt seine unbändige Wut?

Juul antwortet beschwichtigend: Mit Paul ist alles in Ordnung. Er drückt seine Gefühle mit den Mitteln aus, die ihm zur Verfügung stehen. Die Schmerzenslaute seiner Schwester und die persönliche Sprache seiner Eltern werden ihm zeigen, wo die Grenzen der Menschen in seinem Umfeld liegen.

Paul hat durch die Geburt der Schwester seine Sonderstellung verloren. Da ist es normal, dass er Eifersucht, Trauer oder Wut empfindet. Umso wichtiger ist es, dass die Eltern die Verantwortung für die Kommunikation in der Familie übernehmen. Sie geben den Ton vor. Sie zeigen ihm, dass sie sich in ihn hineinversetzen können. Die Schwester ist ein willkommenes Mitglied der Familie – und sie werden Paul dabei helfen, seine neue Rolle als großer Bruder zu finden.

Elternsein heißt auch, sich unbeliebt zu machen.

Die Herausforderung im Umgang mit selbstbestimmten Kindern liegt also darin, ihnen Entscheidungsfreiheit zu gewähren und ihnen gleichzeitig nicht die Führung zu übertragen. Doch das ist leichter gesagt als getan. Der zehnjährige Marcel war schon von kleinauf autonom und wissbegierig. Seine Eltern wollten möglichst viele seiner Talente fördern. Nachdem er schon mit vier zur Schule wollte, erwirkten sie eine vorgezogene Einschulung mit fünf. Heute lernt er außerdem Spanisch, spielt Trompete und kann Kung-Fu. Trotzdem sind seine Eltern in Sorge: Sein Grundschullehrer will ihm keine Gymnasialempfehlung ausstellen.

Sie fragen sich, warum er trotz seines überdurchschnittlichen IQs von 125 nur gute bis befriedigende Noten erzielt. Sie erkundigen sich bei Psychologen, ob er sich womöglich aus Angst vor dem Stigma des Strebers zurückhält. Sie fragen Jesper Juul, ob sich die Lehrer vielleicht daran stören, dass er sich in seinem Drang nach Selbstbestimmung ungern von anderen helfen lässt.

Juul erinnerten die Eltern an das dänische Bild der sogenannten „Curling-Eltern“, die wie die Wischer in der Eissportart versuchen, die Laufbahn des Steins selbst von kleinsten Unebenheiten zu befreien. So lernt Marcel nicht, sich sowohl mit seinen Stärken als auch mit seinen Schwächen zu integrieren – der elterliche Übereifer kann beim Kind auf Dauer zu narzisstischen Tendenzen führen. Marcel braucht keine perfekte Kindheit, sondern die Liebe seiner Eltern und die Freiheit, seinen eigenen Weg zu gehen.

Während Marcels Eltern sich zu sehr bemühen, zwischen der Welt und ihrem selbstbestimmten Kind zu vermitteln, ist bei den jungen Eltern des kleinen Finn das Gegenteil der Fall. Der Vierjährige hat in vielen Bereichen seines Lebens absolute Entscheidungsfreiheit: Er darf seinen Fernsehkonsum selbst dosieren und die Winterjacke sogar dann ablehnen, wenn er mit blauen Lippen auf dem Spielplatz steht. Umso heftiger sind die Konflikte, wenn sich Finns Eltern in manchen Situationen, zum Beispiel im Straßenverkehr, doch gezwungen sehen, seinen Willen zu beschneiden.

Auch hier findet Juul klare Worte: Elternsein heißt auch, sich unbeliebt zu machen. Kleine Kinder kennen ihre Wünsche, aber nicht zwingend ihre Bedürfnisse. Es ist unsere Aufgabe, sie empathisch aber bestimmt zu führen, und im Sinne ihrer wahren Bedürfnisse zu entscheiden. Die dadurch entstehenden Konflikte führen nicht zum Verlust der kindlichen Liebe. Als Eltern müssen wir diese Spannungen aushalten und klar und authentisch kommunizieren.

Manche Kinder brauchen Raum, um ihr individuelles Schicksal zu verarbeiten.

In manchen Fällen ist es mit der Entscheidungsfreiheit nicht getan. Das gilt insbesondere für selbstbestimmte Kinder mit besonderen Biografien. Sie brauchen zusätzlichen Freiraum, um ihr individuelles Schicksal zu verarbeiten.

Zum Beispiel die achtjährige Bea.

Bea wäre eigentlich ein eineiiger Zwilling. Doch ihre Schwester war nicht lebensfähig und musste in der vierundzwanzigsten Schwangerschaftswoche durch einen selektiven Fetozid abgetrieben werden. Anstatt als Zwilling kam Bea alleine zur Welt.

Das hat sie geprägt. Beas Mutter beschreibt ihre Tochter als sensibel und selbstbestimmt, aber auch als kritikunfähig, unsicher und unbeherrscht. Das führe zu vielen Konflikten, die regelmäßig schrecklich eskalierten.

Die Mutter hat den Verlust des Zwillings mithilfe jahrelanger Psychoanalyse verarbeiten können und Zeit gehabt zu trauern. Bea hingegen war damals noch nicht alt genug, um ihren eigenen Verlust zu verstehen. Darum muss die Mutter ihr aktiv dabei helfen.

Juul rät, sie solle Bea von ihrer Erfahrung erzählen: „Du hattest ein paar Wochen lang eine Zwillingsschwester, die aber zu krank war, um zu überleben. Als sie starb und du zur Welt kamst, war ich sehr traurig und unendlich glücklich zugleich. Irgendwann war ich nur noch glücklich, dich zu haben. Dabei habe ich vergessen, dass du auch jemanden verloren hast.“

Im Anschluss kann die Mutter Bea erst einmal aufmerksam beobachten und ihr Raum geben, um die neuen Informationen zu verarbeiten. Entscheidend ist hier, dass Mutter und Kind auf Augenhöhe miteinander sprechen.

Autonome Kinder haben ein starkes Gespür für Integrität, von dem die ganze Familie lernen kann.

Selbstbestimmte Kinder sind keine Problemkinder. Mit der richtigen Balance aus Freiheit und authentischer Führung entwickeln sie sich zu integren Persönlichkeiten, die entschlossen für Gerechtigkeit einstehen. Das zeigen Beispiele wie das der zehnjährigen Lena.

Lena wirkte schon früh wie eine kleine Erwachsene. Selbst auf Babyfotos war ihr fester und selbstsicherer Blick erkennbar. Seitdem trifft sie weitsichtige und nüchterne Entscheidungen. Sie meidet körperliche Nähe und verweigert direkten Kontakt. In der Öffentlichkeit ist sie so beherrscht, dass sie ihre eigenen Gefühle aus dem Blick verliert. Zurück in der Intimität ihres Zuhauses bricht sie dann in lange und energische Wutanfälle aus.

Sie zeigt nach außen hin generell nur wenige Emotionen. Ihre jüngere Schwester nimmt tränenreich Anteil an traurigen Nachrichten wie dem Todesfall der Großmutter. Lena hingegen reagiert aufgeräumt, beinahe sachlich. Auch in der Schule gilt sie als kontrolliert und streng. Aber genau hier liegt eine ihrer großen Charakterstärken: Sie ist moralisch absolut integer.

Lena ist ehrlich, unbestechlich und gerecht. Das verleiht ihrem Wort Gewicht, in der Schule wie zu Hause. Sie hat wenig Verständnis für Menschen, die sich für Versuchungen verbiegen oder korrumpieren lassen. Sie stellt die Authentizität der Menschen über gesellschaftliche Unterschiede. Sie bewertet sie allein nach ihrem Charakter und ist als Klassenbeste bedingungslos bereit, leistungsschwächere Schüler zu unterstützen.

Lenas Vater hat außerdem bemerkt, dass ihr die Entscheidungsfreiheit wichtiger ist als Wahlfreiheit. Sie würde im Zweifelsfall eher auf Auswahlmöglichkeiten verzichten als gar nicht selbst entscheiden zu können. Lenas Eltern sind stolz auf den starken Charakter ihrer Tochter, haben aber Angst vor der bevorstehenden Pubertät.

Zunächst einmal kann man den Eltern gratulieren, dass sie Lenas Selbstbestimmtheit als Stärke erkannt haben. Sie sehen ihre Tochter als das, was sie ist: eine starke Persönlichkeit, die mit ihrer moralischen Integrität alle in der Familie inspiriert. Im Hinblick auf die Pubertät sollten sie genau dort anknüpfen. Lena ist willens und fähig, sich anderen Menschen gegenüber zu erklären. Nun kommt eine neue Zeit, in der sie ihren Eltern als Beraterin zur Seite stehen kann.

Die Familie kann gemeinsam lernen, was es bedeutet, ein autonomes Kind durch die Pubertät zu begleiten. Sie können sie immer wieder ehrlich fragen, was in ihr vorgeht und welchen Freiraum sie benötigt. All das wird gelingen, solange sie einander gleichwürdig begegnen. Das bedeutet natürlich auch, dass die Eltern ebenfalls ihre Grenzen und Bedürfnisse aufzeigen, damit Lena sie weiter respektieren kann.

Mit der richtigen Begleitung wachsen selbstbestimmte Kinder zu reifen Führungsfiguren heran.

Die Beispiele zeigen, welche Stärken autonome Kinder entfalten können. Lenas Eltern haben diese Stärken erkannt. Wie können andere Eltern ihr selbstbestimmtes Kind so sehen, wie es ist? Kurz gesagt: Indem sie sich von ihren vorgefertigten Erwartungen verabschieden.

Wir haben gesehen, dass autonome Kinder keine Trotz- oder Problemkinder sind. Derartige Etiketten werden letztlich nur von verunsicherten Erwachsenen vergeben. Selbstbestimmte Kinder brauchen empathische und zugewandte Eltern, die authentisch kommunizieren, wann und weshalb sie reale Bedürfnisse über die akuten Wünsche ihrer Kinder stellen und folglich unpopuläre Entscheidungen treffen. Wenn das nicht gelingt, kann es passieren, dass sich Kinder weder gesehen fühlen noch das Verhalten ihrer Eltern verstehen.

Autonome Kinder sind keine Tyrannen. Sie handeln nicht gegen ihre Eltern. Sie sehnen sich wie alle Kinder nach Wertschätzung und Liebe. Sie treten nur früher und vehementer für sich selbst ein. Diagnosen wie ADHS und Zuschreibungen wie „verhaltensauffällig“ verfehlen den Kern der Sache.

Erwachsene spüren, wenn ihre gewohnten Werkzeuge versagen. Lehrerinnen, Eltern und Erzieher erkennen, wenn ihre gewohnte Sprache nicht zu einem Kind durchdringt. Das muss aber zu keiner  folgenschweren Diagnose führen. Das Kind ist deshalb nicht falsch. Es ist, wie es ist. Es spricht eine andere Sprache.

Wenn wir das urteilsfrei annehmen, können wir seine Sprache lernen – egal ob mit Blicken, Gesten oder Worten. Wir können eine gleichwürdige Beziehung aufbauen, indem wir uns ehrlich für die Perspektive des Kindes interessieren und es ermutigen, sich zu erklären. So respektieren wir seinen Wunsch nach persönlicher Integrität und fördern seinen Drang nach Autonomie.

Dabei ist es wichtig, dass wir auch unsere eigenen Grenzen aufzeigen. Niemand verlangt, dass wir perfekt sind. Kinder brauchen authentische Begleiter, die Schwächen zeigen, Fehler machen und bereit sind, ihrerseits dazuzulernen.

Unter diesen Voraussetzungen können autonome Kinder zu charakterstarken Menschen heranwachsen, die mit ihrem natürlichen Drang nach Autonomie anderen Menschen zur Selbstbestimmtheit verhelfen. Und sind es nicht genau solche Persönlichkeiten, die unsere Gesellschaft dringend braucht?

Zusammenfassung

Die Kernaussage dieser Blinks ist:

Selbstbestimmte Kinder sind wie alle Kinder auf die liebevollen Beziehungsangebote ihrer Eltern angewiesen – sie wollen nur selbst bestimmen, wann sie diese Angebote wahrnehmen. Wir als Bezugspersonen müssen ihren besonderen Drang nach Autonomie so oft wie möglich respektieren und fördern. Gleichzeitig müssen wir als Erwachsene Verantwortung übernehmen und mit dem Unmut unserer Kinder umgehen, wenn wir ihre Bedürfnisse über akute Wünsche stellen. Je authentischer wir dabei unsere Gedanken und Gefühle kommunizieren, desto eher werden sich kräftezehrende Machtkämpfe in eine kooperative und gleichwürdige Beziehung umwandeln.

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