Viele Menschen halten sich an den aus dem christlichen Kontext stammende moralische Gebot, die Eltern unter allen Umständen zu verehren. Doch das ist ein Problem – nämlich dann, wenn Eltern ihren Kindern Leid zufügen. In den Blinks zu Alice Millers Die Revolte des Körpers (2004) wird erklärt, wie Körper und Geist auf Verdrängung zugunsten von Elternliebe reagieren, welche Rolle die Kunst bei der Verarbeitung kindlicher Traumata spielt und wie sich die negativen Folgen von Verdrängung überwinden lassen.
Alice Miller war eine polnisch-schweizerische Psychologin und Autorin. 1923 in Polen geboren wuchs sie in einer jüdisch-orthodoxen Familie auf. Von 1940 bis 1945 lebte sie unter falschem Namen in Warschau und studierte dort an der Geheimen Universität. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs führte sie ihr Studium in Lodz und Basel fort, bevor sie schließlich in Zürich eine Ausbildung zur Psychoanalytikerin absolvierte. Nach zwanzig Jahren Berufspraxis distanzierte sie sich Mitte der 1980er-Jahre von den Lehren Freuds, in dessen Triebtheorie sie eine Verharmlosung von Kindesmissbrauch erkannte. Zwischen 1979 und ihrem Tod im Jahr 2010 veröffentlichte sie mehr als ein Dutzend Bücher über die Ursachen und Folgen von Kindesmissbrauch. Einer ihrer großen Bestseller ist das Das Drama des begabten Kindes aus dem Jahr 1979.
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Start free trialViele Menschen halten sich an den aus dem christlichen Kontext stammende moralische Gebot, die Eltern unter allen Umständen zu verehren. Doch das ist ein Problem – nämlich dann, wenn Eltern ihren Kindern Leid zufügen. In den Blinks zu Alice Millers Die Revolte des Körpers (2004) wird erklärt, wie Körper und Geist auf Verdrängung zugunsten von Elternliebe reagieren, welche Rolle die Kunst bei der Verarbeitung kindlicher Traumata spielt und wie sich die negativen Folgen von Verdrängung überwinden lassen.
„Du sollst Vater und Mutter ehren“, heißt es in der Bibel, die bis heute für viele Menschen die Grundlage für ihr Verständnis von Moral bilden. Die meisten Menschen sind der Überzeugung, dass den Eltern Liebe und Respekt gebührt, denn schließlich verdanken sie ihnen die Existenz. Leider fügen zu viele Eltern ihren Kindern physische Gewalt oder psychisches Leid zu. Wenn man nun bedingungslose Ehrfurcht vor ihnen haben soll, muss man negative Erlebnisse mit den Eltern zwangsläufig in einer Schublade verschließen.
Nicht immer ist den Eltern bewusst, wie sehr sie ihre Kinder verletzen, und dass auch Unterlassung oder Verweigerung von Nähe eine Form der Gewalt sein kann. Dabei ist inzwischen hinlänglich bekannt, wie sehr Kinder auf Zuwendung angewiesen sind. Ein Neugeborenes ist seiner Umgebung schutzlos ausgeliefert. Um zu überleben, benötigt es die Fürsorge und Liebe seiner Eltern oder anderer Bezugspersonen, die das Kind beschützen, ernähren und pflegen.
Kinder, denen genügend „emotionale Nahrung“ in Form von Zärtlichkeit, Verständnis und Ehrlichkeit gespendet wird, sind für die Herausforderungen des Lebens gewappnet. Zudem werden sie die Liebe, die sie selbst erfahren, auch an ihre Nächsten weitergeben.
Erhält ein Kind hingegen keine echte Zuneigung, kann das verheerende Folgen haben. Um zu überleben, sind Kinder darauf angewiesen, alles dafür zu tun, von ihren Eltern geliebt und versorgt zu werden. Aufgrund dieser existenziellen Abhängigkeit sind misshandelte Kinder dazu gezwungen, traumatische Erlebnisse aus ihrer Erinnerung zu verdrängen und sich somit einer gefährlichen Illusion von Liebe hinzugeben. Die Verbannung traumatischer Kindheitserfahrungen aus dem Bewusstsein ist also eine Folge des Überlebensinstinkts.
Dass diese Erinnerungen unterdrückt werden, bedeutet jedoch nicht, dass sie fortan sicher weggeschlossen sind und die Betroffenen nicht mehr belasten. Oftmals hält die Verdrängung kindlicher Traumata bis ins Erwachsenenalter an. Die Betroffenen idealisieren Eltern und Kindheit, leiden jedoch unbewusst an einem lebenslangen Mangel an emotionaler Nahrung. Noch Jahre und Jahrzehnte kann sich der erlittene seelische Knacks auf qualvolle Weise äußern, etwa in Form von unerfüllten Sehnsüchten, einem unerklärlichen Schamgefühl oder chronischen psychosomatisch bedingten Krankheiten. Der Kopf vergisst, doch der Körper speichert die Erfahrung.